„Wir suchen das einfachst mögliche Modell, in dem die interessante Physik drinsteckt"

Spannende Materialien mit Quantensimulatoren erforschen

Schon während seiner ersten Studienjahre in Australien las Tim Harris mit Faszination die wissenschaftlichen Veröffentlichungen von Forschenden aus München, die in Experimenten mit gefangenen Atomen Materialien simulieren. Heute promoviert er in diesem Bereich an der Ludwig-Maximilians-Universität und findet es aufregend, als Theoretiker eng mit den Experimentalphysiker:innen zusammenzuarbeiten.

Von Maria Poxleitner

Bereits um 9 Uhr morgens liegt die Sommerhitze über dem Museumsviertel im Herzen Münchens. Das Mathematikgebäude der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) reiht sich etwas unscheinbar zwischen die Pinakotheken und das Museum Brandhorst mit seiner bunten Keramikfassade. Von den oberen Etagen blickt man auf die umliegenden Dächer und die Türme der Frauenkirche spitzen hervor und zeigen in den strahlend blauen Himmel. Im vierten Stock, der den Lehrstuhl für Theoretische Nanophysik beherbergt, stehen sämtliche Türen und Fernster offen, in der Hoffnung auf eine kühlende Brise.

Tim Harris scheinen die Temperaturen nicht allzu viel auszumachen. Der Australier ist MQV-Stipendiat und promoviert in der theoretischen Physik. „Manchmal vermisse ich das Wetter“, meint der 25-Jährige, wenn er an sein Heimatland denkt. Sicherlich nicht an sonnigen Sommertagen wie diesen, doch aber an Regentagen. Oder in der kalten Jahreszeit. Wenn er über die Weihnachtszeit nach Hause fliege, dann sei es in Australien extrem heiß und sonnig, erzählt Tim: „Typischerweise verbringt man den Weihnachtstag am Strand, isst Meeresfrüchte zu Mittag und spielt vielleicht ein bisschen Strandkricket.“ Aufgewachsen in Bundaberg, ein paar Hundert Kilometer nördlich von Brisbane, dauerte es für Tim zu High-School-Zeiten gerade mal 20 Minuten, um ans Meer zu fahren. Oft ging es da nach der Schule mit Freunden an den Strand – „Aber ich bin kein Surfer!“, schiebt der junge Australier sogleich hinterher. Hier in seinem Münchner Büro muss erstmal das geöffente Fenster für Abkühlung sorgen. Zeit, um an einen der umliegenden Seen zu fahren, wird sich erst nach Semesterende wiederfinden. Denn erstmal stehen Konferenzen vor der Tür. Gerade erst zurückgekommen von der einwöchigen Nobelpreisträgertagung in Lindau, geht es in ein paar Tagen nach Paris und von dort unmittelbar weiter nach London. „Ich muss ein Poster präsentieren, das noch nicht existiert“, bemerkt der Doktorand trocken.

Tim forscht zur Quantensimulation sogenannter stark-korrelierter Materie. Die Eigenschaften vieler kristalliner Festkörper – also Materialien, die aus einer periodischen Anordnung von Atomen bestehen, wobei man auch von einem Kristallgitter spricht – können sehr gut mit Hilfe des Bildes freier Elektronen beschrieben werden, das heißt, die Elektronen im Material beeinflussen sich gegenseitig kaum und verhalten sich somit annähernd wie einzelne, unabhängige Teilchen. Bei stark-korrelierten Materialien sei es ganz anders, erklärt der Physiker: „Da sind es wirklich die Wechselwirkungen zwischen den Elektronen, die die Physik dominieren.“ Diese starken Wechselwirkungen führten zu Materialien, die eine Reihe von ungewöhnlichen Eigenschaften aufweisen, fährt Tim fort.

Die Mechanismen auf mikroskopischer Ebene verstehen

Ein populäres Beispiel sind Hochtemperatur-Supraleiter. Die Supraleitung, also die Fähigkeit Strom ohne Widerstand zu leiten, setzt hier bei deutlich höheren Temperaturen ein als bei konventionellen Supraleitern – nach menschlichem Empfinden immer noch sehr kalte Temperaturen, aber nicht ganz so nahe am absoluten Nullpunkt. Flüssiger Stickstoff mit seinem Siedepunkt von -196 °C kann anstelle von teurem Helium als Kühlmittel ausreichen, was diese Materialien für verschiedene Anwendungen interessant macht. Die Physik, die das Verhalten konventioneller Supraleiter beschreibe, verstünde man sehr gut, erläutert Tim, bei Hochtemperatur-Supraleitern würde der zugrundeliegende Mechanismus hingegen noch heftig diskutiert. Ganz allgemein wolle man die Mechanismen, die zu bestimmten Eigenschaften von stark-korrelierter Materie führten, auf mikroskopischer Ebene verstehen – „das ist etwas, das sich unserer Meinung nach sehr gut in Quantensimulationsexperimenten erforschen lässt.“

Tim Harris, 25


Position

MQV-Promotionsstipendiat


Institut

LMU – Lehrstuhl für Theoretische Nanophysik: Quantenvielteilchentheorie-Gruppe


Studium

Physik


Tim erforscht theoretische Modelle, die bestimmte Klassen von Materialien beschreiben. Indem er Details, die in realen Materialien vorkommen, vernachlässigt und die theoretische Beschreibung auf das Wesentliche reduziert, will er die relevanten mikroskopischen Mechanismen identifizieren, die für das physikalische Verhalten dieser Materialien verantwortlich sind. Darauf aufbauend entwickelt er Vorschläge, wie diese "minimal models" in Quantensimulationsexperimenten implementiert werden können.

Tim in seinem Büro. Der Großteil seiner täglichen Arbeit besteht in der Durchführung von numerischen Simulationen.

Quantensimulatoren können Festkörper nachstellen, simulieren also Materialien, aber unter sehr genauen und kontrollierbaren Bedingungen und reduziert auf das Wesentliche. Von experimenteller Seite sind die Forschenden am Max-Planck-Institut für Quantenoptik, für deren Experimente Tim bereits während seines Bachelors schwärmte, führend in diesem Feld. In ihren Laboren können sie mit Hilfe von Lasern einzelne Atome abkühlen, einfangen und in regelmäßigen Strukturen anordnen. Während jedoch in einem realen Festkörper die regelmäßige Anordnung der Atome das Kristallgitter bildet – wobei sich jedes Atom an einer festen Gitterposition befindet und die Elektronen sich dazwischen bewegen – imitieren die Atome in einem Quantensimulator die Elektronen. „Die Atome können zum Beispiel zwischen verschiedenen Gitterplätzen hin- und herspringen und so die Bewegung der Elektronen nachahmen“, erklärt Tim. Wichtig sei, dass die Abstände viel größer und die Zeitskalen viel länger seien. Die Atome im Quantensimulator würden sich viel langsamer bewegen als die Elektronen in einem echten Material. „Man kann hineinschauen und wirklich mikroskopische Bilder davon machen, Schnappschüsse sozusagen, was in diesen Quantensimulatoren passiert. Das ist in einem echten Material definitiv nicht möglich.“

Reduziert auf das Wesentliche

Dem Doktorand ist die Faszination für sein Forschungsfeld anzumerken: „Der größte Vorteil von Quantensimulatoren liegt darin, dass man alles einstellen kann.“ Reale Materialien seien extrem komplizierte Dinge, führt er weiter aus. Viele verschiedene Mechanismen würden darin vor sich gehen und sich gegenseitig beeinflussen. Elektronen, die miteinander wechselwirken, Elektronen, die mit dem Kristallgitter wechselwirken, vielleicht Verunreinigungen oder die Temperatur, die eine große Rolle spielt – das sind nur ein paar Punkte von vielen, die man aufzählen könnte. Da sei es schwierig, einzelne Mechanismen zu identifizieren, die für ein bestimmtes physikalisches Verhalten des Materials verantwortlich sein könnten, erklärt der Physiker: „Die Idee bei der Quantensimulation ist es, das Ganze runterzubrechen und nach dem einfachst möglichen Modell zu suchen, in dem die interessante Physik drinsteckt, die wir beobachten wollen.“ 

Und genau hierin liegt Tims Aufgabe. Als Thoretiker steht er nicht selbst im Labor, aber an seinem Lehrstuhl erforschen und entwicklen sie diese „minimal models“, wie Tim es nennt. Ein Großteil seiner täglichen Arbeit besteht darin, numerische Simulationen dieser Modelle durchzuführen. Zum einen nutzt er dieses numerische Werkzeug, um die Ergebnisse aus den Experimenten mit den gefangenen Atomen zu überprüfen. Vor allem aber nutzt er sie, um neue Physik zu entdecken. Wenn die Ergebnisse seiner numerischen Simulationen vielversprechend sind und auf interessante Phänomene hindeuten, erarbeitet er Vorschläge, wie sein „minimal model“ im Labor implementiert werden kann. Eine Vorgabe könnte zum Beispiel sein, welche Geometrie das Kristallgitter haben soll, ob es zum Beispiel dreieckig oder quadratisch sein soll. Auch, welche Elemente für die Simulation verwendet werden sollen, könnte Teil des Implemetierungsvorschlags sein.

„Ich arbeite an der Schnittstelle zwischen Theorie und Experiment“

In den Laboren könne man die verschiedenen Parameter präzise einstellen und kontrollieren, erklärt der Physiker fasziniert: „Man kann die verschiedenen Wechselwirkungen einstellen, man kann die Gittergeometrie einstellen, man kann die Temperatur bis zu einem gewissen Grad einstellen und so weiter.“ Aber natürlich kann nicht alles umgesetzt werden, wovon mancher Theoretiker träumen mag. Sich eng mit den experimentellen Physiker:innen abzustimmen, sei dabei unumgänglich, betont Tim: „Zuallererst muss man zu den Experimentalphysikern gehen und sie fragen, was sie von der technischen Seite her machen können.“ Das Tolle an München sei, dass man hier diese enge Zusammenarbeit habe. Tims Ph.D.- Projekt ist ein Paradabesipiel dafür, denn der Zweitbetreuer seiner Arbeit, Johannes Zeiher, arbeitet als Experimentalphysiker in den Laboren des MPQ. „Ich arbeite an der Schnittstelle zwischen Theorie und Experiment“ – genau das ist es, was Tim an seiner Arbeit so gefällt.

Im Rahmen eines Sommerforschungsprojekts während seines Bachelorstudiums kam er bereits das erste Mal in Kontakt mit seinem heutigen Forschungsfeld. Die Thematik gefiel Tim so gut, dass auch seine Bachelor- und Masterarbeit sich Fragestellungen aus diesem Bereich widmeten. Schon in Australien habe er immer die Artikel der Forschenden aus München gelesen, erinnert sich der Theoretiker, hauptsächlich die Artikel experimenteller Gruppen wie der Gruppe am MPQ. „Damals dachte ich: Wäre es nicht toll, wenn ich eines Tages mit diesen Leuten zusammenarbeiten könnte, die diese extrem coolen Experimente durchführen?“ Und nun kann er es.

Sein Weg führte Tim jedoch nicht direkt nach München. Zum Ende seines Physikbachelors an der University of Queensland in Brisbane bewarb er sich zunächst auf Ph.D.-Stellen in den USA. Da dort, wie in Australien, das Promotionsprojekt direkt an den Bachelor anschließt und es weniger üblich ist, ein Masterstudium zu absolvieren, sei das die naheliegendste Entscheidung gewesen, meint der Physiker. „Aber in den USA bin ich nirgendwo reingekommen.“ Von seinem Wunsch, seine Doktorarbeit im Ausland zu machen, ließ sich Tim dadurch aber nicht abbringen. Er startete das Ph.D. in Brisbane, um seine Arbeit nach einiger Zeit als Masterabschluss anrechnen zu lassen und sich damit in Europa um eine Promotionsstelle bewerben zu können. „Eine der Hauptgründe war, dass ich endlich mal nach Übersee wollte.“ Bewerbungen gingen nach Oxford, Hannover – und nach München für das MQV-Promotionsstipendium. „Ich muss sagen, dass ich damit am wenigsten gerechnet habe. Ich hätte nicht gedacht, dass ich eine Chance habe.“ Umso größer war die Freude als die Zusage kam. „Ich war wirklich begeistert. Es gibt nicht viele Orte auf der Welt, die besser im Bereich der Quantenwissenschaften sind als München, die Community ist großartig.“

Vom Strand zu den Bergen

Was Tim ebenfalls großartig findet – zumindest fast so großartig wie das Meer vor der Nase zu haben – ist die Nähe zu den Bergen. „In Australien bin ich nicht so viel gewandert, da habe ich nicht so viel „bush walking” gemacht, wie wir das zu Hause nennen“, erzählt der Doktorand. Hier in München habe es ihm das Wandern nun aber sehr angetan. Im Urlaub im September geht es zusammen mit einem guten Freund nach Slovenien. Den Triglav, den höchsten Berg des Landes, wollen sie besteigen. „Die Hütten habe ich gestern Abend gebucht.“ Ein weiterer Berg auf der Bucket List ist der Watzmann in den Bayerischen Alpen. Seine Bucket List verschlägt Tim aber auch zurück nach Australien. So wird seine Heimastadt Bundaberg auch als „Tor zum Great Barrier Reef“ bezeichnet. Geschnorchelt sei er da aber noch nie, gesteht der Doktorand. Seit er Australien verlassen habe, sei ihm bewusst geworden, wie viele Dinge er dort noch machen wolle. „Das Great Barrier Reef zu besuchen ist definitiv etwas, das ich schon längst hätte tun sollen“, lacht der Australier, „ich wohne wirklich nicht so weit davon weg.“

Was er sowohl in Australien als auch Deutschland machen kann, ist Schach spielen. „Mein Bruder und ich haben das Schachspielen schon sehr früh von meinem Vater gelernt, der ein ziemlich guter Schachspieler war“, erzählt Tim. Von Anfang an nahm er an Schachturnieren teil, war später Teil des Schul- und des Collegeteams. Dabei wurde gegen den ein oder anderen australischen Meister gespielt und einmal wurde Tim bei der australischen Juniorenmeisterschaft selbst Zweiter. Dieses Jahr nahm er das erste Mal seit vier Jahren wieder an einem Schachtunier teil: „Ich bin nach Karlsruhe gefahren und habe beim GRENKE Chess Open mitgespielt.“ Dieses Turnier gilt als das größte offene Schachturnier in Europa. Im Moment sei er auf der Suche nach einem Verein: „Ich möchte unbedingt für einen Schachclub in München spielen.“

Irgendwann wird es ihn wieder zurück nach Australien verschlagen, meint der Doktorand. Aber jetzt genießt er erstmal seine Zeit in Deutschland. Auch wenn es nicht der ursprüngliche Plan war – jetzt ist Tim umso glücklicher, dass er in München gelandet ist: „Wenn ich die Zeit zurückdrehen müsste, würde ich nichts anders machen.“


Veröffentlicht am 30. August 2024; Interview am 9. Juli 2024