An Ideen mangelt es Kiran Adhikari nicht – egal ob es dabei um Lösungen für konkrete mathematische Probleme, neue Ansätze für seine Forschung zum Quanteninternet oder darum geht, wie er anderen helfen kann. Mit viel Engagement setzt er seine Ideen um, von Neugier getrieben und immer bestrebt über den eigenen Tellerrand hinauszublicken.
Von Maria Poxleitner
Auf den ersten Blick mutet es an wie eine seltsame Notenzeile: mehrere horizontale schwarze Linien, auf denen sich wie unterschiedliche Notenwerte schwarze und weiße Punkte befinden, dazwischen Pfeile, die die Punkte und Linien miteinander verbinden. Kiran Adhikari sitzt in seinem Büro an der Theresienstraße in der Münchner Innenstadt und zeigt auf die eigenartige Grafik: „Das ist eine Möglichkeit, ein Quanteninternetprotokoll darzustellen.“
Der theoretische Physiker forscht in seiner Doktorarbeit zu sogenannten verteilten Quantennetzwerken, auch Quanteninternet genannt. So wie klassische Rechner auf der ganzen Welt über das Internet miteinander kommunizieren können, so sollen in der Zukunft auch Quantencomputer miteinander verbunden sein. Dabei spricht man abstrakt von Knoten und Kanälen. Die Knoten des Netzwerks können einzelne Qubits oder ganze Quantencomputer sein. Über die Kanäle, beispielsweise Glasfaserleitungen, kann dann Quanteninformation zwischen den Knoten ausgetauscht werden. Die Erforschung und der Aufbau eines Quanteninternets auf experimenteller Seite sind jedoch extrem aufwendig und herausfordernd. Bisher sind in Laboren nur einzelne Komponenten oder sehr kleine Netzwerke mit geringer Reichweite realisiert worden.
„Wir als Theoretiker müssen zeigen, dass sich der Aufwand lohnt, indem wir neue Anwendungen erforschen, die den Aufbau solch umfangreicher Netzwerke rechtfertigen“, erklärt Kiran. Man suche zum Beispiel nach Protokollen, also sozusagen Rezepten, wie man Quanteninformation möglichst effizient über ein Quantennetz verteilen kann. Die grafische Darstellung solcher Protokolle, die der junge Doktorand diesen Herbst in einem Paper vorgeschlagen hat, kann dabei helfen. Jede der horizontalen Linien steht für einen Knoten und dessen zeitliche Entwicklung, die Punkte auf den Linien repräsentieren verschiedene Ereignisse auf den Knoten, Pfeile zeigen an, dass Information von einem Knoten zu einem anderen gesendet wird. Man sei nicht daran interessiert, was im Detail passiert, welche einzelnen Gatter zum Beispiel im Protokoll auftreten, erklärt der 27-Jährige. Das würde bei größeren Protokollen schnell viel zu unübersichtlich. „Uns interessiert der Informationsfluss. Wie hängen die Ereignisse an unterschiedlichen Knoten kausal zusammen und wie viele Ressourcen, also zum Beispiel verschränkte Zustände, benötigt man für ein Protokoll. Das sind zwei wichtige Dinge, die wir mir diesen Diagrammen anschaulich darstellen können.“
Seine Masterarbeit schrieb Kiran in Aachen bei David DiVincenzo, der als einer der Pioniere des Quantencomputings gilt. Allerdings schrieb er sie nicht im Bereich Quantencomputing, sondern in der Quantengravitation. Physiker:innen versuchen dabei, die Quantenmechanik und die allgemeine Relativitätstheorie in einer Theorie zu vereinigen. Während des Bachelorstudiums in Bremen habe er sich zwar bereits mit Quantencomputing beschäftigt, erzählt der Physiker, aber dann habe er gemerkt, dass die Quanteninformation in der Quantengravitation immer beliebter wird. „Man versucht, Probleme mit informationstheoretischen Ansätzen zu lösen. Die Quanteninformationstheorie ist die Brücke zwischen der Gravitation und der Quantenmechanik.“ Eine wichtige Formel, in der sich diese Brücke mathematisch ausdrückt, ist die sogenannte Berkenstein-Hawking-Formel. Einer der beiden Namensgeber, Stephen Hawking, spannt auch den persönlichen Bogen in Kirans bisheriger Karriere, denn er brachte ihn in gewisser Weise zur theoretischen Physik.
Position
Doktorand
Institut
TUM – Lehrstuhl für Nachrichtentechnik
THEQUCO
Studium
Physik
Kiran forscht an verteilten Quantennetzen, auch bekannt als Quanteninternet. Er sucht nach neuen Anwendungen sowie Protokollen für die effiziente Verteilung von Quanteninformation über große Netzwerke. Seine theoretischen Analysen helfen, den enormen Aufwand zu rechtfertigen, der für den Aufbau eines Quanteninternets erforderlich ist.
Bis zur zehnten Klasse habe er seine Schulzeit in einem Internat außerhalb Kathmandus verbracht, erzählt Kiran. „Internet war nicht erlaubt, aber jeden Abend durften wir für eine Stunde fernsehen“. Meistens hätten sie Wissenschaftsdokumentationen angeschaut, erinnert sich der 27-Jährige. „Da war eine Dokumentation von Hawking, in der er über schwarze Löcher und andere Dinge sprach.“ Diese Dokumentation habe ihn und seine Schulkameraden sehr fasziniert. Da sie keine Möglichkeit hatten, weiter zu recherchieren und die Lehrer nicht jeder astrophysikalischen Frage gewachsen waren, begannen sie, ihre eigenen Gedanken zu spinnen. „Wir haben fast täglich darüber diskutiert.“ Über schwarze Löcher, das expandierende Universum… „Oder Zeitreisen“, fügt Kiran lächelnd hinzu. „Unsere Ideen kamen aus einer Neugier heraus, waren zum Teil aber sehr romantisch“, lacht er, wenn er jetzt, als studierter Physiker, zurückdenkt. Die elfte und zwölfte Klasse verbrachte er in Kathmandu. Zurück in der Stadt, ging er sofort zu einem Buchladen und kaufte sich „Eine kurze Geschichte der Zeit“ von Hawking. „Das war das erste, was ich nach dem Internat gemacht hab. Ich habe das Buch gelesen und dann wusste ich, dass ich wirklich Physik machen will.“ Und auch, dass er theoretischer Physiker werden will, war für Kiran zu diesem Zeitpunkt bereits klar. „Dann habe ich es ernst genommen“, erinnert er sich. Jetzt konnte er im Internet nach Materialien suchen und Bücher ausleihen, so viel er wollte.
Doch auch wenn Kiran es offensichtlich genoss, nach dem Internat endlich Zugriff auf all das Wissen zu haben, so scheinen die „romantischen“ Diskussionen mit seinen Internatskameraden, das Verfolgen ganz eigener Gedankengänge, eine gute Grundlage gelegt zu haben. Auch heute will sich der Physiker nicht zu sehr von bereits vorhandenem Wissen oder Vorgaben leiten lassen, sondern verfolgt und entwickelt am liebsten seine eigenen Ideen, ob zu neuen Anwendungen für Quantennetzwerke, kreativen Lösungsansätzen für konkrete mathematische Probleme oder unkonventionellen Forschungsansätzen. Auf seinem Rechner öffnet Kiran ein Programm, das er für To-Do‘s und andere Notizen nutzt. Man sieht mehrere Listen sortiert in unterschiedliche Themenbereiche: Holography & Quantum Gravity, Quantum Advantage, Fundamentals, Distributed Quantum Computing. Die Listeneinträge sind mit verschiedenen Farben hinterlegt und jeder Eintrag erlaubt es, ein neues Drop-Down-Menü zu öffnen. „Jedes Mal, wenn ich eine Idee habe, liste ich sie zunächst hier und entwickle sie dann nach und nach weiter“, erläutert der Theoretiker. Es scheinen viele Ideen zu sein. Der junge Doktorand klickt auf ein paar der Einträge, die Unterpunkte erscheinen und die Liste wird länger und länger. Manche seiner Ideen kämen ihm einfach so in den Sinn, oft ganz plötzlich, zum Beispiel während er kocht, zu Abend isst oder unmittelbar nach dem Aufwachen. Für sein Notizprogramm hat er auch eine App auf dem Handy. So kann er seine Einfälle immer und überall sofort notieren.
Sechs Uhr morgens bis elf Uhr vormittags hält sich Kiran für kreative Dinge vor, denkt über seine Ideen nach, probiert Berechnungen aus. „Um diese Zeit ist mein Kopf sehr klar, deshalb versuche ich, sehr früh aufzustehen.“ Den Nachmittag nutzt er hingegen, um in Papern und Büchern zu lesen. Das Lesen inspiriere ebenfalls viele seiner Ideen, meint der Physiker. Auch zu Quantengravitation lese er nach wie vor regelmäßig. Es sei zwar nicht sein MQV-Thema, aber sein persönliches Interesse und er möchte informiert bleiben. Außerdem könne das eine Feld durchaus Inspirationen für das andere liefern. „Wenn das passiert, ist es besonders spannend.“ Bei seinem letzten Paper sei das auch der Fall gewesen.
Sein persönliches Interesse an der Quantengravitation verbindet der Doktorand auch mit seinem sozialen Engagement. Mit einem Zuschuss von ICTP Physics Without Frontiers setze er einen Research-Journal-Club zum Thema „Quantum Information in Spacetime and Matter“ für Bachelor- und Masterstudierende in Nepal auf. Diesen Dezember geht der Journal Club in eine neue Runde. Für die wöchentlichen Sessions fragt Kiran internationale Experten als Sprecher an, organisiert Tutorials oder Informationsangebote für mögliche Karrierewege in der Wissenschaft. Mit etwas Anleitung seinerseits hätten ein paar der teilnehmenden Studierenden des vergangenen Journal Clubs auch ein Paper geschrieben, erzählt er stolz. Anderen zu helfen und sich zu engagieren war für den Physiker schon immer selbstverständlich. Fragt man ihn nach seiner Motivation, zuckt er nur mit den Schultern: „Ich habe das Gefühl, dass es das ist, was wir tun sollten“. Nach der High-School besuchte er eine abgelegene Gemeinde in den Bergen, die keinen Zugang zu Elektrizität hatte. Er half den Bewohnern, thermoelektrische Wandler in ihren Häusern zu installieren, um mit Hilfe der Wärme der Kochfeuer LEDs zu betreiben. „Meine Mutter kannte das Dorf, weil sie dort als Krankenschwester gearbeitet hat. Und wir hatten einige Geräte. Es war also ganz natürlich, das zu tun“.
Diesen Herbst ist Kiran seit langer Zeit mal wieder in den nepalesischen Bergen unterwegs. Zunächst besucht er seine Familie in Kathmandu, um mit ihnen das Dashain-Festival zu feiern, bei dem viele Verwandte zusammenkommen. Danach möchte er seine Großeltern besuchen, zu denen er eine enge Verbindung hat. Sie wohnen nicht in Kathmandu, sondern in einem Dorf in den Bergen. „Von Kathmandu aus muss man zuerst sechs Stunden fahren und dann acht Stunden wandern, um ihr Dorf zu erreichen“, lacht Kiran, aber er freut sich darauf, endlich wieder die wunderschöne Natur und die atemberaubende Aussicht auf die schneebedeckten Achttausender genießen zu können. Dass seine Großeltern ihn während seines Masters in Aachen besucht haben, darauf ist Kiran ein bisschen stolz. „Sie waren die ersten aus ihrem Dorf, die Nepal verlassen haben. Danach hatten sie ganz schön was zu erzählen."
Er selbst sei schon immer gerne gereist: „Wenn man reist, ist man wirklich raus aus dem Arbeitsalltag". Japan, Rumänien, Amsterdam, Kopenhagen, Paris, Budapest, Rom. Es zieht ihn immer wieder in andere Länder und Städte. Auch an den verschiedenen Küchen ist er sehr interessiert und probiert sich gerne durch landestypische Gerichte. Von Krautsalat und Rotkohl sei er aber nicht begeistert, fügt Kiran hinzu und lacht.
Wenn auch die deutsche und bayerische Küche nicht seine Favoriten sind – München als Stadt findet er sehr schön. Vor allem aber war es die MQV-Stelle, die ihn überzeugt hat. Bei seiner Masterarbeit im Bereich Quantengravität habe ihm der starke Fokus auf informationstheoretische Ansätze sehr gefallen. Physik aus Sicht der Informationstheorie anzugehen – diese Möglichkeit hat er bei seiner Doktorandenstelle nun wieder. „Das ist eine neue Art, über Physik nachzudenken. Hier passiert etwas Aufregendes.“ Man mache immer noch Physik, führt der Doktorand fort, aber auf eine abstraktere Art und Weise und die bringe Klarheit. Auch Teil eines so großen Projekts zu sein, motiviert den Theoretiker: „Im Rahmen des MQV werden große Anstrengungen unternommen. In kurzer Zeit kann viel passieren und man kann sehen, wie sich die Ergebnisse der eigenen Arbeit auswirken.“ Besonders wichtig ist für Kiran aber, dass er Freiraum hat, auch mal riskante oder kontroverse Ansätze in Betracht zu ziehen und neuen Ideen nachzugehen. Die Liste auf seinem Rechner wird in den nächsten Jahren wohl nicht kürzer werden.
Veröffentlicht am 24. November 2023; Interview am 9. Oktober 2023